Besonders in den Bundesländern, die zur Zeit der deutsch-deutschen Teilung zur Bundesrepublik Deutschland gehörten, spielt die Geschichte der DDR eine marginale Rolle. Ebenso wenig spiegelt sich die Auseinandersetzung und Erinnerung an die DDR als Unrechtsstaat außerhalb der Schule wider. Wichtigen Jubiläumsdaten, die für die DDR-Geschichte und ebenfalls die gesamtdeutsche Geschichte bedeutend sind, wird in der Erinnerungskultur nur unzureichend Aufmerksamkeit geschenkt.

Ähnlich ist es mit dem 17. Juni, an dem im Jahr 1953 in verschiedenen Städten und Orten der DDR ein Volksaufstand ausbrach, der sich schon in den vorangegangenen Tagen angebahnt hatte. Die Bevölkerung war aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Lage unzufrieden: Das repressive Programm der Sozialistischen Deutschen Einheitspartei (SED) setzte sich durch, durch das Tausende Menschen von der Stasi kontrolliert wurden und als politische Häftlinge in Gefängnissen unter menschenunwürdigen Bedingungen litten. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft führte zu einer erhöhten Republikflucht Betroffener und trug zu den Versorgungsengpässen bei. Ende Mai 1953 war die Erhöhung der Arbeitsnormen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungen bekannt gegeben worden. Bei gleichbleibendem Lohn sollte also die Produktionsleistung erhöht werden.

Die Proteste des 17. Juni 1953 bezogen sich jedoch nicht ‚nur‘ auf die erhöhten Arbeitsnormen. Stattdessen wurden Forderungen nach freien Wahlen, der Entlassung politischer Häftlinge, dem Rücktritt der SED und der Wiedervereinigung Deutschlands gestellt. Aus heutiger Sicht klingt es umso seltsamer, dass die Wiedervereinigung erst 36 Jahre später begann. Insgesamt protestierte über eine Million Menschen in etwa 700 Orten des DDR-Gebiets. Dieser Aufstand gehört somit zu den größten der deutschen Geschichte. Die Proteste des 17. Juni 1953 wurden durch sowjetisches Militär und die Volkspolizei brutal niedergeschlagen. Es kam zu etwa 50 Todesopfern, wobei sich die Angaben unterscheiden.

Im Jahr 2025 wird am 3. Oktober, dem offiziellen Tag der deutschen Einheit, der 35. Jahrestag der Wiedervereinigung begangen werden. Zum Beispiel in der Bundeshauptstadt Berlin werden Feierlichkeiten stattfinden, die meisten Erwerbstätigen und alle Schüler/innen werden einen freien Tag genießen, von besonders hohem Stellenwert ist das Datum für die meisten jedoch nicht. Von 1954 bis zur Wiedervereinigung wurde sogar der 17. Juni in Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR als Tag der deutschen Einheit in der Bundesrepublik Deutschland gefeiert. Am 17. Juni 2025 fand in der Aula des Gymnasiums Marianum eine Gedenkveranstaltung für den Jahrgang 10 und die EF statt, die unter dem Thema ‚Menschenrechte‘ stand. Im Geschichtsunterricht hatte die 10A ein Referat zur historischen Einordung des Volksaufstands erarbeitet. Ein Grundkurs der EF führte ein Gespräch mit dem eingeladenen Zeitzeugen Alexander Richter-Kariger über sein Leben in der DDR, seine Erfahrungen als politischer Häftling und die Folgen der menschenunwürdigen Haft. Die Niederschlagung des Volksaufstands in 1953 – und ebenfalls der folgenden Proteste – veranschaulichte den Lernenden exemplarisch, inwiefern die in einer Verfassung verankerten Menschenrechte der Meinungs- und Protestfreiheit in einer Diktatur dennoch unterdrückt werden. Herr Richter-Kariger erzählte den Lernenden davon, wie er 1982 verhaftet wurde, weil er nach und nach die Manuskriptseiten eines DDR-kritischen Romans in die BRD übersendet hatte. Im Jahr 1985 wurde er von der der BRD freigekauft. Weder die Haftbedingungen noch der Prozessverlauf waren an der Wahrung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten orientiert. Durch die persönlichen Erfahrungen Herrn Richter-Karigers konnten die Schüler/innen anhand eines weiteren Beispiels erkennen, wie es von staatlicher Seite zur Verletzung der Menschenwürde kommen kann und Menschen den

rechtlichen Schutz vor dieser Verletzung verlieren können. Zum Abschluss der Veranstaltung trug die 10B die im Deutschunterricht vorbereiteten Überlegungen zu einem ‚Tag voller Meinungsfreiheit‘ vor: Sie hatten einen beispielhaften Tagesablauf gestaltet, bei dem sie immer wieder eigene Entscheidungen über dessen Gestaltung treffen konnten und ihre Meinung ebenfalls kritisch äußern konnten. Vermeintlich selbstverständliche Freiheiten erhielten somit zum starken Kontrast verletzter Menschenrechte ein neues Gewicht.

Einerseits ist die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte besonders wichtig, um überhaupt das Verständnis über das Leben in der zweiten deutschen Diktatur zu fördern. Während der Vorbereitungen für die Gedenkveranstaltung wurde deutlich, dass mehrere Schüler/innen Verwandte haben, die in der DDR lebten. Es kam zu interessanten Erzählungen, die für das Verständnis der sonst eher fernen DDR besonders wertvoll sind. Daraus ergibt sich die Frage, inwiefern eine Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte und mit unterschiedlichen Identitäten in ‚West‘ und ‚Ost‘ anhaltende Differenzen zwischen ‚Osten‘ und ‚Westen‘ verringern könnte. Andererseits gibt die Auseinandersetzung mit Unrechtserfahrungen die Möglichkeit, einen Bezug zum eigenen Leben herzustellen. Es wurde der mutigen Protestierenden des 17. Juni 1953 gedacht, um gleichzeitig den notwendigen Schutz der wesentlichen Grundlagen einer Demokratie zu stärken: Menschenrechte und getrennte Staatsgewalten.

Franka Döhring

Ein Foto mit dem Schulleiter Herrn Scholle, dem Zeitzeugen Herrn Richter-Kariger und der organisierenden Referendarin Frau Döhring stellte freundlicherweise das Westfalen-Blatt Warburg / Frau Silvia Schonheim zur Verfügung.